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Verlorene Liebe

Vor etwa sechzig Jahren erschien ein Buch mit dem Titel: «Weg zur vaterlosen Gesellschaft». Durch den Krieg sind damals vielen Kindern die Väter verlorengegangen, und dann durch die neue Art der Arbeitswelt und durch die zunehmende Mobilität. Wo die Gegenwart des Vaters früher den Alltag und damit das Werden der Kinder mitbestimmte, auf dem Feld, in der Werkstatt oder im Geschäft, lebten die Kinder nun mit Mutter, Erzieherinnen und Lehrerinnen. Viele Männer waren vom Krieg so gezeichnet, dass sie sich selbst entfremdet waren und so ihren Kindern nicht wirklich Vater sein konnten. Das Buch zeigt die verheerenden Folgen auf für die Ich-Werdung der Kinder, besonders für die Jungs. Die Autoren Alexander Mitscherlich und seine Frau Margarete waren Atheisten und haben die Bedeutung des Vaters von der psychoanalytischen Seite her betrachtet.

Wie kommt es, dass im gleichen Zeitraum die religiöse Dimension des Vater für viele Menschen zerfiel? Dass ihnen dieser Gott-Vater zu einem Problem geworden ist? Oder war es vielleicht immer so? Ist nicht das Fehlen des göttlichen Vaters das eigentliche Loch in unserem Leben? Haben menschliche Autoritäten nicht deshalb so grosse Möglichkeiten, uns zu verführen und zu missbrauchen, weil unsere Verwurzelung im göttlichen Vater fehlt?

Der Text im Buch Jesaja, den wir heute ausschnittweise gehört haben, wurde etwa fünfhundert Jahre vor Christus geschrieben. Es war nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft, in den Ruinen des zerstörten Jerusalem, in einer Zeit grosser Glaubenszweifel an dem Bund Gottes mit Abraham. Da erinnert der Prophet daran, wie dieser Gott, der sich seit Jahrhunderten dem Volk Israel zu erkennen gibt, der Vater ist: Du selber bist unser Vater. Und dieser Vater hat einen besonderen Namen: «Unser-Erlöser-seit-Urzeit». (vgl. Martin Buber)

Wenn wir das anders ausdrücken: Es ist unsere Erlösung, Gott als Vater zu erkennen und zu ihm heimzufinden.

Um diesen Vater als «unser-Erlöser-seit-Urzeit» zu finden, empfiehlt uns Jesus: Nennt niemanden auf der Erde euren Vater, denn einer ist euer Vater, der himmlische. (vgl. Mt 23,9)

Das ist keine Abwertung der biologischen oder geistigen Vaterschaft. Aber es ist ihre gesunde Relativierung. Vaterschaft ist an sich Repräsentanz des göttlichen Vaters, sie ist sozusagen Sakrament. Väter und Mütter sind für ein Kind die ersten Repräsentanten Gottes, sie geben ihm den Raum, die Nahrung, die Bejahung zum Dasein. In diesem Raum baut das Kind seine Identität auf, entwickelt sich sein einmaliges Wesen. Doch das Kind überschreitet diesen Raum und tritt hinaus als ein eigenständiger Mensch mit einer eigenständigen Berufung.

Wenn Christus sagt, nennt niemanden auf der Erde euren Vater, ist das eine Wegweisung, nicht bei unseren Erfahrungen als Kind stehenzubleiben. Ob wir nun schlimme oder gute Erfahrungen mit unseren Eltern gemacht haben – alle sind gerufen, diese Erfahrung zu überschreiten und den Weg zum göttlichen Vater zu gehen. Es ist keineswegs ausgemacht, dass jene, die viel Gutes mit ihrem Vater erlebt haben, ihren göttlichen Ursprung leichter finden. Vielleicht haben die tief Verwundeten eine grössere Sehnsucht nach der heilenden Fülle Gottes.

Kein irdischer Vater ist gross genug, um dieses Loch in unserem unbewussten Geist zu füllen, das durch den Verlust des göttlichen Vaters in jedem Menschen vorhanden ist.

Wenn wir die Heilige Schrift daraufhin befragen, können wir erkennen, dass sie im Tiefsten die Geschichte vom Verlust des Vaters erzählt, von unserem Ausgeliefertsein an Ersatzangebote und von der Suche dieses Vaters nach seinen verirrten und verwirrten und verlorenen Söhnen und Töchtern.

Die Geschichte vom barmherzigen Vater ist ein Schlüssel zu diesem Vater. Er weint vor Glück über die Heimkehr seines Sohnes aus dem Elend, über dessen Reue, Wahrhaftigkeit und Demut. Es lohnt sich, diese Geschichte zu meditieren, bis wir uns in diesem «Sohn» wiederfinden, bis auch das Ankommen als Tochter in den Armen des wartenden Vaters zur Erfahrung wird. Der Weg dahin kann lang sein und es braucht Entschlossenheit und Wahrhaftigkeit, denn es müssen ja alle Projektionen durchstossen und aufgelöst werden.

Im Evangelium lesen wir auch: «Niemand kommt zum Vater, ausser durch mich.» (vgl. Joh 14,6) Das ist kein Ausschlussverfahren, sondern hier wird gesagt, dass uns durch Christus ein letzter und tiefster Zugang zum Geheimnis Gottes geschenkt wird: Gott ist unser Vater. Etwas Grösseres gibt es nicht.

Wenn wir in diese Wahrheit hineinfinden, strömt uns der Reichtum Gottes zu, seine Dynamik des Lebens. Wir sind fähig, mit diesem göttlichen Vater von Herz zu Herz zu kommunizieren, als Wesen von seiner Art, wie Paulus es sagt. Das schwarze Loch in uns wird auf diese Weise gefüllt von der Liebe dieses Vaters zu uns, es wird zum Garten, in dem Gott gegenwärtig ist und nach uns fragt: Wo bist Du? Und wir erfahren das Glück, dass dieser Gott nach uns fragt, sich um uns kümmert, ganz persönlich und mit Namen. So wissen wir, woher wir kommen, wer wir sind und wohin es mit uns geht. Und daraus ergibt sich unsere Lebensaufgabe.

 

Vgl. Jesaja 63,16b-64,7, nach Martin Buber

Du selber bist unser Vater,

«Unser-Löser-seit-Urzeit» ist dein Name.

Warum, Du, lässt du uns abirren von deinen Wegen,

unser Herz hart werden gegen die Furcht vor dir?

Schon sind wir wie solche geworden,

die von Urzeit her noch nie dein Walten erfahren haben,

über denen nie dein Name ausgerufen war.

O zerrissest du den Himmel, zögest du hernieder,

dass vor deinem Antlitz die Berge wankten!

Von Urzeit her hat man nicht gehört von einem Gott ausser dir,

der das tut für den, der seiner harrt:

Du begegnest dem Freudigen, dem, der die Wahrhaftigkeit lebt,

denen, die deiner gedenken auf deinen Wegen.

Du bist unser Vater.

 

Abendgebet-Sequentia, Predigerkirche, Zürich, 3. Dezember 2023, 18:00

Bild: Adobe, Augusto

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