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Erbarmen oder Gerechtigkeit?

Wir machen jetzt ein paar theologische Dehnübungen zum Thema Gerechtigkeit und Erbarmen, denn wir feiern heute in der katholischen Kirche den Barmherzigkeitssonntag. Eine polnische Ordensfrau und Mystikerin, Faustina Kowalska, (1905 – 1938), hat ausgerechnet in der Zeit der beiden Weltkriege tiefe Einblicke in das Erbarmen Gottes erhalten und sollte dies der Welt nahebringen.

Erbarmen und Gerechtigkeit scheinen ein theologisches Dilemma zu sein: Wie kann Gott gerecht sein, also das Böse bestrafen und das Gute belohnen und gleichzeitig Erbarmen haben mit den Sündern und den Bösen? Wie soll man das auf die Reihe bekommen?

Nehmen wir ein Beispiel, das ich vor ein paar Monaten in den Nachrichten gelesen habe und die wir es täglich hören können:

Ein glaubender Mann muss zusehen, wie seine Frau vor den Kindern vergewaltigt wird, wie Frau und Kinder dann gefoltert und getötet werden. Wie kann er das ertragen ohne Hoffnung auf Gerechtigkeit: dass der Böse für sein diabolisches Tun bestraft wird und selber die Qualen erleiden muss, die er andern zugefügt hat? Wenn Gott diesem Bösen nun Erbarmen zeigt, und dieser folgenlos, straffrei den Himmel teilt mit denen, die er gequält und vernichtet hat, wie soll das gehen? Ist das nicht zutiefst ungerecht? Wird damit nicht von allen, die Opfer des Bösen geworden sind, der Verzicht auf Rache und Gerechtigkeit erzwungen?

Als Gott die Welt erschuf, hat er in seiner ekstatischen Schöpferliebe den Menschen erschaffen: Ein Geschöpf, das die Freude der Liebe und des Glücks mit ihm teilt, ein freies Wesen, dem alles zur Verfügung stehen soll, was er bisher geschaffen hat. So beschreibt es Friedrich Weinreb.

Als Gott diese Idee des Menschen in sich erwog, haben die Engel Alarm geschlagen: «Davon raten wir dir sehr ab, denn der Mensch, den du erschaffen willst, wird stark von der Erde angezogen werden (damit ist das ganze physische und psychische Leben mit seinen Naturgesetzen gemeint, pmh) … Die Anziehungskraft der Welt wird dann herrschen und der Mensch wird fallen, nichts mehr von Liebe und Glück wird sein, sondern alles wird kaputtgehen.» (S.30)

Dann ertönte auf einmal eine andere Stimme. Und diese Stimme sagte: «Wenn der Mensch auch fällt-, Liebe gerade ist imstande, das Gesetz, die Schwerkraft zu überwinden; wenn alles in Trümmer fällt, ist die Liebe doch stärker. Ich rate dir, lass es geschehen, Liebe hat die Kraft, es zu tragen und zu ertragen, Liebe überwindet das Gesetz! (S.30)

Da sagt Gott: Du bist meine weibliche Seite, ich nenne dich jetzt channa (hebr. = Gnade) … Denn du hast ausgesprochen, was keiner meiner Berater, die nur ein Echo meiner Gesetzmässigkeit waren, sagen konnte. Du hast das Neue ausgesprochen, du bist die Mutterseite, die mir die Gnade eingibt.» (30-31)

Weinreb führt diese Gedanken weiter aus: Gott der Vater erkennt jetzt seine weibliche Seite, die Gnade, und weiss, dass sie in die Welt, die er zu schaffen vorhat, hinabsteigen muss und diese Gnade hat die Eigenschaft eines Mutterschosses. Im Hebräischen heisst Mutterschoss rechem und ist das gleiche Wort wie Barmherzigkeit rachem. (vgl. S.31)

Das Wort channa wird in der Heiligen Schrift zu Hanna, im Lateinischen Anna. Und Anna bringt Maria zur Welt, hebräisch mirjam, und das heisst übersetzt: «Das Bittere der Zeit tragen».

Weinreb erschliesst über die hebräische Sprache Zusammenhänge, die in der deutschen Übersetzung der Heiligen Schrift so nicht erkennbar werden: Gnade zeigt sich im Erbarmen Gottes. Sie ist der Mutterschoss, der jenes Leben trägt und hervorbringt, wie Gott es sich für uns Menschen gedacht hat.

Durch das Erbarmen, das in Mirjam und in Christus eingegangen ist in diese Schöpfung, können wir Menschen also den Überstieg über die Gesetze der Welt tatsächlich verwirklichen, und wir können das freie, liebende Geschöpf werden, das sich die Engel nicht vorstellen konnten.

Bei Hildegard von Bingen findet sich dazu ein Gedanke, der ebenfalls zur Grossartigkeit der menschlichen Berufung gehört: Als Geschöpf soll der Mensch im Zusammenspiel mit Gott dazu beitragen, das Böse geschichtlich zu überwinden. Es ist die grösste Demütigung des gefallenen Engels, von diesem schwachen Erdgeschöpf, das er verachtet, überwunden zu werden, wenn dieses Geschöpf von Hass und Rache befreit selber Erbarmen wird.

Die Gerechtigkeit Gottes besteht nicht darin, den Bösen zu vernichten, sondern Gott bietet ihm an, umzukehren, abzulassen von seiner Bosheit. Er braucht nur den Willen zur Umkehr und echte Reue. Das ist keine einfache Sache, denn sobald er seinen Hass und seine Bosheit loslässt, kommt er in die Wahrheit, in die Verbundenheit und damit in das Mit-Fühlen. Damit beginnt ein Leiden, denn er spürt jetzt im eigenen Innern die Qual, die er andern angetan hat. Aber weil er jetzt mit Gott verbunden ist durch seine Umkehr, wird dieses Leiden zu einer Umschmelzung und Reinigung und führt ihn nach und nach in die volle Freude und Liebe.

«Lass es geschehen, Liebe hat die Kraft, es zu tragen und zu ertragen, Liebe überwindet das Gesetz!»

 

Text Kolosser 3,12-17

12Gott hat euch als seine Heiligen erwählt, denen er seine Liebe schenkt. Darum legt nun das neue Gewand an. Es besteht aus herzlichem Erbarmen, Güte, Demut, Freundlichkeit und Geduld. 13Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorwirft. Wie der Herr euch vergeben hat, so sollt auch ihr vergeben! 14Vor allem aber bekleidet euch mit der Liebe. Sie ist das Band, das euch zu vollkommener Einheit zusammenschließt. 15Und der Friede, den Christus schenkt, lenke eure Herzen. Dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Und dafür sollt ihr dankbar sein!

16Das Wort, in dem Christus gegenwärtig ist, wohne in reichem Maß bei euch. Lehrt einander und ermahnt euch gegenseitig. Tut das in aller Weisheit. Singt Gott aus vollem Herzen Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder. Denn er hat euch Gnade geschenkt.

 

Literatur

Friedrich Weinreb, GottMutter, Die weibliche Seite Gottes, Thauros Verlag, S. 30f.

Hildegard von Bingen: Cäcilia Bonn OSB, Der Mensch in der Entscheidung, Rüdesheim am Rhein, S. 13ff.

 

Sequentia – Abendgebet, Predigerkirche Zürich, 7. April 2024, 18:00

Bildnachweis: Adobe Stock,

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