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Der Mensch – eine besondere Nummer

In unserer Gesellschaft gilt ganz selbstverständlich, dass der Sieger eines Wettkampfes die Nummer 1 ist.

Wer auf Podest 2 und 3 steht, ist auch noch gut, doch die Reihenfolge der Zahlen drückt eine Wertung aus, eine Hierarchie.

Ebenso ist es bei den Buchstaben: Ein Kühlschrank mit der höchsten Energieeffizienz wird mit A* oder A** bezeichnet. Im Orchester sprechen wir von der ersten und zweiten Geige. Oder wir sagen: Das war 1A und meinen damit höchste Qualität.

Wenn wir einen Blick auf die alten Kulturen werfen, dann sehen wir, dass Zahlen eine symbolische Bedeutung hatten. Die Eins ist die Zahl des Ursprungs und des Maßes der Zahlen überhaupt. Sie ist daher Symbol für das Ureine, Unteilbare und dann auch das Göttliche. Die Zahl 2 bedeutet unter anderem Gegensatz, Trennung, Polarität, Differenz und Unterscheidung; Die Eins kann also nicht für die Zwei stehen und umgekehrt.

Durch die Zahlen wird eine Ordnungsstruktur zum Ausdruck gebracht, die der Mensch in der Schöpfung erkannt hat. Diese Ordnung ist „hierarchisch“ und meint, dass eine Wirklichkeit aus der andern nach ganz bestimmten Gesetzen hervorgeht, dass alles aus einer Einheit kommt und sich zu einer Vielfalt entfaltet. „Hierarchie“ heisst „heilige Ordnung“.

Wenn diese Struktur unverletzt ist, kann das Leben sich voll entfalten, es ist intakt. (Für Interessierte: oder ausführlich bei Friedrich Weinreb, Zahl, Zeichen, Wort. Das symbolische Universum der Bibelsprache). Die alten Völker kannten neben diesem hierarchischen Prinzip noch etwas anderes: Leben ist Polarität, Leben existiert als Spannungsverhältnis. Es vollzieht sich in Gegensätzen: dunkel-hell; warm-kalt; trocken-nass; Tag-Nacht, usw. Von trocken kann man nur sprechen, weil es auch nass gibt. Nie kann das Trockene nass sein und das Nasse trocken. Entscheidend ist, dass die Gegensätze in einer dynamischen Wechselwirkung stehen, dass die Dynamik aufrechterhalten wird, denn aus dem Zusammenspiel entsteht „Neues“, die ganze Vielfalt der Schöpfung.

Wenn der eine Pol über den andern dominiert oder absolut wird, bricht die Lebensdynamik zusammen. Es entsteht „Tod“, „Unfruchtbarkeit“. Das Männliche und das Weibliche, Mann und Frau, wurden in den alten Kulturen als Ausdruck dieser Polarität des Lebens erfahren, als „göttlich“. Beide Pole sind absolut gleichwertig, gleichgewichtig, und bedingen sich gegenseitig. Das will das Symbol von Yin und Yang zum Ausdruck bringen.

Erst wenn das „Männliche“ und das „Weibliche“ und damit auch Mann und Frau mit dem „andern Lebensprinzip“ verbunden waren, war die Einheit des Lebens hergestellt, war das Leben vollständig, konnte es weitergehen.

Das Verlangen nach der Ganzheit des Lebens ist Ausdruck des Eros, der tiefsten menschlichen Lebenskraft.

In unserer Gesellschaft geschieht jetzt etwas Eigenartiges: Es gibt die starke Bemühung, Mann und Frau, Vaterschaft und Mutterschaft nicht mehr als Polarität zu sehen, als zwei absolut gleichwertige und gleichgewichtige, nicht austauschbare Wirklichkeiten, sondern als „Hierarchie“:

Man spricht von Elter 1 und Elter 2. Damit rückt das Verhältnis von Mann und Frau aus der Gleichwertigkeit der Polarität in die Über- und Unterordnung des Hierarchischen, der Zahl, der Qualität. Jemand ist dann die Nummer 1 und jemand die Nummer 2.

Wenn wir das Bild von der Polarität von Mann und Frau in unserer Gesellschaft aufgeben, auch rechtlich, dann siegt das Hierarchische im Verhältnis von Mann und Frau und damit das alte menschliche Herrschaftsdenken. Der Eros stirbt, und eine Kultur ohne Eroskraft verliert ihre schöpferische Dynamik.

Ohne Vision von der „Heiligen Hochzeit“ als Vereinigung aller Gegensätze, als Erfüllung aller Sehnsucht wird das Leben „monistisch“, es bleibt in sich eingekapselt. Erst im Zusammenspiel der Gegensätze, von Geist und Leib, von Mensch und Kosmos, von Mann und Frau, von Mensch und Gott kann eine Ahnung entstehen vom Tanz des Lebens, von der Einheit des Ganzen, von der Fülle des Lebens, die der Kosmos in sich trägt und die sich endgültig öffnet, wenn wir diese raumzeitliche Dimension verlassen. Wir sollten uns diese Erosqualität auf keinen Fall nehmen lassen!

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