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Herrlichkeit – nicht Ethik!

(Bar 5,1-9)

Wenn heute in unserer Gesellschaft vom christlichen Glauben gesprochen wird, redet man vom Christentum. Das Christentum ist nützlich für die Gesellschaft wegen den Werten. Wegen der Ethik. Ethik ist für die meisten Menschen etwas Abstraktes, ein Thema für Akademiker und Politiker bei öffentlichen Diskussionen und deshalb nichts Attraktives.

Wenn wir Worte aus der Heiligen Schrift hören wie soeben aus dem Buch Baruch, dann entsteht der Eindruck, in einem ganz andern Film zu sein, obwohl es offensichtlich auch um Werte geht: Es ist die Rede von Gerechtigkeit und von Frieden.

Baruch, der Autor des gelesenen Textes, von dem nichts Genaues bekannt ist, spricht zum Volk Gottes, das in der Fremde lebt, im Elend, und keine politische Macht mehr hat, das alles verloren hat, was seine Identität ausmacht.

In dieser aussichtlosen Lage erklingt die prophetische Stimme: Leg deine Trauerkleider ab, bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit! Hülle dich in den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit! Mit andern Worten: Stehe da als ein Volk, in dem Gerechtigkeit herrscht!

Gerechtigkeit ist ein biblisches Schlüsselwort und meint eben nicht Ethik, sondern Leben: Leben ist dann Leben, wenn alles so ist, wie Gott es gewollt hat, wenn alles seine Richtigkeit hat, sein Mass, seine Angemessenheit. In der Regel des benediktischen Lebens heisst das discretio.

Diese „Richtigkeit des Seins“ entsteht, wenn wir als Menschen hören, was Gott sagt: Gott spricht zu uns durch die „heiligen Ordnungen“. Das ist die Ordnung der Schöpfung mit ihren Naturgesetzen; das ist die „Ordnung“ des Leibes, der Seele, des Geistes – sie enthalten Gesetzmässigkeiten, die wir erkennen können. Es gibt die Ordnungen des Zusammenlebens, wie Gott sie seinem Volk offenbart und anvertraut hat.

Wenn wir diese Ordnungen missachten oder zu wenig Bewusstsein davon haben, entsteht Leiden, Mangel, Behinderung, Verbiegung, Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt – also Ungerechtigkeit, im Letzten gestörtes, destruktives Leben.

Nun sagt die prophetische Stimme: Setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt! Es ist unüblich, dass ein König oder eine Königin sich selber die Krone aufsetzt. Hier geht es aber darum, dass Jerusalem diese Krone schon besitzt und sie in den Dreck geworfen hat. Es hat seine Erwählung verraten, seine einmalige Stellung inmitten der Völker.

Nun soll es sich besinnen auf seine Würde und seine Grösse. Denn Gott will der ganzen Welt mit diesem Volk etwas begreiflich machen.

Er „will deinen Glanz dem ganzen Erdkreis unter dem Himmel zeigen.“

Dieser Glanz hat also mit Gerechtigkeit zu tun, mit der „Richtigkeit des Seins“. Ohne Hören auf Gott gibt es keine Gerechtigkeit, und ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden, keine „Richtigkeit des Seins“.

Frieden meint nicht Waffenstillstand oder die Abwesenheit von Krieg und Streit. Frieden ist schalom, das Leben, wie Gott es für uns gedacht hat – ein Leben in Herrlichkeit.

Diese Herrlichkeit ist nicht etwas, was man von aussen bestaunen kann, die irgendwie am Himmel erscheint, eine grosse, göttliche Show.
Sie ist die Gottesqualität der Schöpfung, wenn sie wieder mit Gott verbunden ist . Sie ist unsere Gottesqualität, die sich in uns aufbaut, wenn wir aus der Empfängnis Gottes leben.

Wir haben sie verloren, wir erkennen sie nicht mehr und wir verkosten sie nicht mehr durch den Bruch mit Gott, weil wir für ihn blind und taub geworden sind.

Um sie wiederzufinden, müssen wir aufstehen, hinaufsteigen auf den „Berg“: Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe! Dort ist immer schon der „Ort“ der Offenbarung und der Transformation. Wir sollen nach Osten schauen. Der Osten ist immer schon der „Ort“ wo das neue Leben aufsteigt, die Wärme und das Licht.

Die Kinder Israels, die in der Nacht der Zeit verlorengingen, holt das „Wort“, Gott mit seinem Wort, zurück ins Licht.

Diese Texte muss man verstehen wie Träume. Sie sprechen Wahrheiten aus, die anders nicht zu vermitteln sind. Auch in den Träumen und in der geistigen Schau können wir Leben vollziehen. Unsere Situation kann sich dadurch verändern, weil wir eine neue Sichtweise, eine neue Identität, eine neue Deutung unseres Lebens erfahren.

Gott bringt uns heim in die Richtigkeit des Seins durch sein Wort, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte, in Freude, im Licht seiner Herrlichkeit. Berge und Hügel, die unüberwindlichen Hindernisse und die Abgründe wandeln sich, Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Schatten auf Gottes Geheiss. Das ist das Leben in seiner Richtigkeit: Voller Poesie und Schönheit. Ein Leben, das leidenschaftlich geliebt werden kann.

Predigt beim vierstimmigen Abendgebet im Kloster Fahr
9. Dezember 2018

Bettelnde Frau: Adobe Stock
Zelt: Fotolia, Jens Ottoson

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Dieser Beitrag hat 3 Kommentare
  1. Hallo Pia, danke für deine Predigt. Ich vermag grad nicht auszudrücken, was genau mich bewegt nur das deine Worte mich anrühren – meine Suche nach Leben und Frieden. Dir alles Liebe. ( fühle dich umarmt)

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